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Patientenporträt: «log-out» – zurück ins Leben

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Die Entwicklung einer Suchterkrankung ist ein Prozess, eine Geschichte, die tief im Leben eines betroffenen Menschen verankert ist. Auf dem Weg aus der Sucht wird eine neue Geschichte geschrieben, die von Herausforderungen, aber auch von kleineren und grösseren Erfolgen handelt. Noah M. (Name der Redaktion bekannt) erzählt uns im Gespräch seine Geschichte.

Noah M. ist 22 Jahre alt – ein sehr höflicher, gepflegter, junger Mann. Er spricht offen und wählt dabei seine Worte mit Bedacht. Doch etwas irritiert: Anstelle eines Smartphones, wie die meisten jungen Erwachsenen es haben, trägt Noah M. ein uraltes Handy bei sich. Damit könne er nur telefonieren und Textnachrichten versenden und das sei gut so – aber mehr dazu später.

Die «Geschichte» von Noah M. beginnt mit der Trennung seiner Eltern. Damals entstand eine Lücke in seinem Leben und Noah M. war häufig alleine. Mit der Spielkonsole brachte er Inhalt in sein Leben und konnte so der Einsamkeit entfliehen. Doch die vermeintliche Lösung wurde schleichend zum Problem. Was als Zeitvertreib startete, wurde über die Jahre immer mehr zum Lebensinhalt von Noah M. Er begann vermehrt die Schule zu schwänzen, die Fehlzeiten häuften sich und die schulischen Leistungen – die zuvor sehr gut waren – nahmen merklich ab. In Action-Games ein Held – im realen Leben kurz vor dem Aus. Schliesslich waren es seine Lehrer und die Direktorin der Fachmittelschule, welche die Reissleine zogen und Noah M. mit 18 Jahren die Augen öffneten. Kurz vor dem Sitzenbleiben realisierte er, dass er sein Leben verspielt, wenn er nichts ändert. Noah M. entschied sich daraufhin für einen Entzug in der Klinik Selhofen. Spielkonsole und PC musste er zuhause lassen und das Smartphone beim Eintritt in die Klinik abgeben. Er durfte es am Abend zwar während eines festgelegten Zeitfensters noch nutzen, um mit seinem Umfeld in Kontakt zu bleiben, dennoch fühlte Noah M. sich ohne Action-Games, YouTube oder Streaming leer. Sein exzessives Gamen während all den Jahren hatte derart viel Platz in seinem Leben eingenommen, andere Interessen verdrängt und ihn von der Aussenwelt isoliert, dass er vergessen hatte, wer er überhaupt ist, welche Interessen er hat, was ihm Freude bereitet und wie man mit anderen Menschen interagiert. Noah M. war emotional verwahrlost und es gab keine «Reset»-Taste, mit der er sein Problem hätte lösen können.

In der Klinik Selhofen lernte er sich Schritt für Schritt neu kennen und kämpfte sich zurück ins Leben. Dabei halfen ihm die geordnete Tagesstruktur und der Wochenplan, den er sich aus verschiedenen Behandlungs- und Freizeitangeboten zusammenstellen konnte. So entdeckte er beispielsweise Tischtennis oder Lesen für sich, aber auch, wie man mit fremden Menschen in Kontakt tritt und mit ihnen interagiert. Der Klinikaufenthalt habe ihn «geerdet» und ihm aufgezeigt, wie viel vom Leben er bisher verpasst hatte. Diese Erkenntnis gab ihm Antrieb, um am Prozess dranzubleiben und weiterzumachen, was wichtig war – denn wie Noah M. erkennen musste, ist der Suchtausstieg ein langwieriger Prozess, der sich nicht von heute auf morgen bewerkstelligen lässt und in dem man auch Rückschläge aushalten und akzeptieren muss.

Rückblickend ist er der Meinung, dass die Klinik Selhofen der perfekte Ort für ihn war, für den ersten Schritt aus der Sucht und dieser erste Schritt – davon ist er überzeugt – sei der Wichtigste. Hier habe er die nötige Hilfe, Beratung und ein Umfeld bekommen, um sich von seinem alten «Online»-Leben loszulösen. In der Klinik Selhofen habe er auch entdeckt, dass das reale Leben viel bietet, für das es sich lohnt, weiterzukämpfen.

Heute lebt Noah M. in einer betreuten Wohngruppe und ist über diese Anschlusslösung, die er während seines letzten Aufenthalts in der Klinik Selhofen zusammen mit seiner Psychologin fand, «saufroh». Das neue Umfeld, die Tagesstruktur und die anderen jungen Erwachsenen täten ihm gut. Es sei zwar nach wie vor ein Auf und Ab, aber er fühle sich stabil und er tue alles dafür, dass dies auch so bleibe. So komme er beispielsweise wöchentlich nach Burgdorf in die ambulante Gruppentherapie für Online-Abhängige oder habe ein altes Handy ohne Internetzugang. Sein Smartphone habe er zwar noch, aber er nutze es ganz bewusst für maximal drei Stunden am Tag, so wie er es in der Klinik Selhofen trainiert habe. Das Tischtennis habe er als Hobby in sein Leben integriert und probiere immer wieder Neues aus, um seine Freizeit sinnvoll zu gestalten. Und auch «schultechnisch» läuft es bei Noah M. Seine Noten sind gut und er ist bereit für den nächsten Schritt. Aktuell sucht er eine Lehrstelle – Fachmann Information und Dokumentation würde ihn interessieren. Dabei ist Noah M. aber auch realistisch. «Games sind so konzipiert, dass man wenig investieren muss, um schnell Erfolg zu haben. Das reale Leben verwöhnt einem nicht so, da gibt es auch Durststrecken, die man aushalten muss.» Er sei aber zuversichtlich und habe sich das Ziel gesetzt, eine Lehrstelle zu finden und dies motiviere ihn, denn «vo nüt chunnt nüt.» Wenn er das schaffe, sei dies nicht bloss das nächste Level in einem virtuellen Game, sondern ein Erfolg im realen Leben.

 

Autorin: Andrea Eichmüller, Leiterin Marketing

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